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Sportmedizinerin Carmen Grosse* zu den wichtigsten Entwicklungen im Zusammenhang mit der passenden Behandlungsweise.

Carmen Grosse, viele klassische Sportverletzungen werden heute nicht mehr gleich behandelt wie noch vor 15 bis 20 Jahren. Was sind die wichtigsten Veränderungen?
Ganz grundsätzlich betrachtet man den Patienten heute individueller und denkt viel funktioneller und weniger strukturell. Heute geht es bei der passenden Behandlung nicht mehr nur um ein gerissenes Band oder einen gebrochenen Knochen, sondern um die Funktion des Beins, Fusses oder Arms. Die Behandlung umfasst dadurch nicht mehr nur die geschädigte Struktur, wie das früher im Fokus stand, sondern alle an einer Funktion und Bewegung beteiligten Gewebe – also Muskeln, Sehnen, Bänder, Faszien, Lymphgefässe, Nerven und Blutgefässe.

Was genau ist der Unterschied zwischen einem Band und einer Sehne?
Als Sehnen bezeichnet man bindegewebige Faserzüge, die als Verbindungsstrang einen Muskel mit dem Knochen verbinden. Ausdauersportler kennen als bekannteste Sehnen die Achillessehne oder die Patellarsehne unterhalb der Kniescheibe. Sehnen übertragen die Kraft vom krafterzeugenden Muskel auf den Knochen als Endorgan – ähnlich wie eine Fahrradkette. Bänder bestehen zwar ebenfalls vorwiegend aus Eiweissen und Kollagen, haben aber eher stabilisierende Aufgaben wie das Kreuzband im Knie oder die Seitenbänder am Sprunggelenk.

Früher wurden gerissene Bänder fast immer zusammengeflickt, heute häufig nicht mehr. Weiss man mittlerweile Neues über das Zusammenwachsen von Bändern ohne und mit Operation?
Das Wissen über die verletzte Struktur an sich hat sich gar nicht so gross verändert. Denn dass Bänder schlecht zusammenwachsen, weil sie nicht durchblutet sind, ist schon lange bekannt. Daher hat man früher versucht, mit Gips und Schienen die betroffenen Strukturen ruhigzustellen, um die Heilung derselben zu erreichen. Strukturell durchaus erfolgreich – aber funktionell sehr schlecht, da durch eine Ruhigstellung die Muskulatur «wegschmilzt» wie das Glace in der Sonne. Im Klartext bedeutete dies: Bänder ganz – aber Fuss, Knie oder Schulter unbrauchbar für viele Wochen. Heute denkt man ganzheitlicher und versucht alle Punkte miteinzubeziehen. Wie kann man die verletzte Struktur heilen? Und dennoch möglichst rasch wieder Sport treiben? Und wie möglichst eine langfristige Abnützung und Schädigung verhindern?

Zu den Klassikern im Laufsport gehört das Umknicken mit einem allfälligen Bänderriss am Fuss als Folge. Operieren ja oder nein?
Eine Überdehnung des Bandapparats am Aussenknöchel des Fusses ist eine der häufigsten Sportverletzungen überhaupt. Fast immer sind die Aussenbänder betroffen und in Mehrzahl spricht man, weil es sich um drei verschiedene Aussenbänder handelt, die betroffen sein können. Bänder können durch eine Gewalteinwirkung wie einen Sturz oder Schlag «nur» überdehnt werden, es können aber auch einzelne – oder alle drei – Bänder anreissen oder im Extremfall ganz durchreissen. Früher wurden Bänderrisse am Fuss meist operiert, heute ist man wesentlich zurückhaltender. Die Funktion kann auch durch Bildung von Narbengewebe wiederhergestellt werden, auch wenn die Bänder am Fussgelenk nicht wieder anatomisch zusammenwachsen. Mit einer konservativen Therapie kann man spezifisch die Muskulatur kräftigen, um einer erneuten Verletzung vorzubeugen.

Wie soll man als Sportler unmittelbar nach einem Misstritt reagieren?
Die typischen Symptome einer Bänderverletzung sind Schmerzen, die unter Belastung und bei Bewegung zunehmen – verursacht durch die Instabilität. Dazu kommen rasch eine erhebliche Schwellung oder ein Bluterguss über dem Aussenknöchel sowie eine lokale Druckempfindlichkeit. Wichtig: Das Gelenk so rasch wie möglich kühlen, einbinden und möglichst oft hochlegen. Bei mehrtägigen Schmerzen und anhaltender Schwellung zum Arzt gehen und abklären lassen, wie stark das Band verletzt ist und ob allenfalls noch der Knochen betroffen ist. Gehen Schwellung und Bluterguss in den ersten Tagen zurück, kann man langsam wieder mit vorsichtigen Bewegungen beginnen.

Stichwort Meniskus: Da wurden verletzte Teile früher grosszügig herausgeschnitten oder Menisken gar ganz entfernt. Und heute?
Der Meniskus wurde früher als Irrtum der Natur betrachtet, als Überbleibsel der frühkindlichen Entwicklung. Heute ist bekannt, dass die Meniskusscheiben enorm wichtig sind für die Stabilität des Kniegelenks und für den Erhalt des Gelenkknorpels – Stichwort Stossdämpfer. Dementsprechend wird heute versucht, den Meniskus nach Rissen, wenn immer möglich, zu nähen bzw. zu ersetzen mit einem Spender-Transplantat, wenn er ganz zerstört ist. Man schneidet den verletzten Teil nicht mehr einfach weg.

Wie wichtig sind bei der Wahl der passenden Behandlung einer Sportverletzung individuelle Faktoren?
Die sind wichtig. Es kann daher gut sein, dass die Behandlungsweise bei einem Nichtsportler anders aussehen kann als bei einem Sportler. Und bei einem Hobbysportler anders als bei einem Leistungssportler, wenn dieser nur ein kleines Zeitfenster hat und unbedingt an einem Wettkampf teilnehmen will oder muss. Man hat erkannt, dass nicht für jeden Patienten die Maximaltherapie mit Operation notwendig ist.

Haben Sie Beispiele?
Nehmen wir einen Kreuzbandriss. Die Studienlage ist betreffend Kreuzbandverletzungen ziemlich eindeutig. Durch eine Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes können die Gefahren von Folgeschäden wie Meniskusrissen und verfrühter Knorpelabnutzung vermindert werden. Daher ist bei aktiven Sportlern die Empfehlung, bei einem Kreuzbandriss zunächst einmal sechs Monate zuzuwarten, ob das Band vielleicht doch heilt, als sehr kritisch anzusehen. Denn selbst mit intensiver Physiotherapie wird das Kreuzband nicht heilen. Manche weniger sportliche Patienten können vielleicht aber ohne Kreuzband gut leben, weil sie es in ihrem normalen Alltag gar nie in einer Extremsituation brauchen. Die Muskulatur gibt eine gewisse Stabilität für den Alltag, kann aber bei explosiven Belastungen im Sport nicht schnell genug reagieren. Wenn beim Fussballer oder bei der Basketballerin ein Kreuzband reisst, ist eine Operation unumgänglich, wenn er oder sie weiterspielen will.

Was kann passieren, wenn nicht operiert wird?
Schwierig wird es dann, wenn – bleiben wir beim Kreuzband – nach einem Jahr festgestellt wird, dass das Kniegelenk doch nicht stabil genug für die Belastung ist. Schwierig deshalb, weil mittlerweile alle anderen passiven Stabilisatoren wie Seitenbäder, Kapsel, Meniskus des Gelenks ausgelockert sind, sodass dann auch mit einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbands oft keine ausreichende Stabilität mehr erreicht werden kann. Erneute Risse und Verletzungen sind die wahrscheinliche Folge.

Wie hat sich die Nachbehandlung verändert, wenn operiert wird?
Man aktiviert die verletzten Stellen viel früher und widmet sich wie bereits erwähnt ganzheitlich dem an der Verletzung involvierten Gewebe – also Muskeln, Sehnen, Bändern, Faszien, Lymphgefässen, Nerven und Blutgefässen. Eine Operation hilft, die Stabilität schnell wiederherzustellen, sodass man mit frühem Training die Funktion erhalten kann.

Kann mit einer Operation die Heilungsdauer verkürzt werden?
Die Heilungsdauer der verletzten Struktur ist gegeben. Und bei Bändern, Sehnen und Knochen erfolgt sie immer nach den gleichen biologischen Abläufen. Ein Knochenbruch oder Bänderriss muss heilen, und das braucht seine Zeit, ob mit oder ohne Operation. Unterschiede ergeben sich durch Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Rheuma oder Lebensweisen wie zum Beispiel Rauchen oder Übergewicht.

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Wie haben sich die Operationstechniken verändert gegenüber der Vergangenheit?
Moderne Techniken und Instrumente haben dazu geführt, dass Operationen heute weit weniger invasiv, viel schonender und dadurch auch sicherer durchgeführt werden können. Offene Gelenkoperationen zur Bandrekonstruktion werden immer seltener. Das meiste kann man innerhalb des Gelenks operieren.

Hängt die Art und Weise der passenden Behandlung einer Sportverletzung heute stärker von den Wünschen des Patienten ab als früher, wo es in erster Linie eine Entscheidung des Arztes war?
Die Entscheidung für oder gegen eine Operation sollte vom Arzt zusammen mit dem Patienten erfolgen und auf seine Ansprüche abgestützt sein. Keine Band-, Sehnen-, Meniskus- oder auch Knorpeloperation ist lebensnotwendig. Bänder heilen nicht einfach so zusammen – auch Fingernägel und Haare tun das nicht. Aber vielleicht kann man mit gerissenen Bändern ganz gut leben, wenn die Ansprüche nicht zu hoch sind. Die Medizin differenziert heute viel stärker und wägt ab: Die Erfahrung hat gezeigt, dass zum Beispiel das innere Seitenband des Kniegelenks eher selten komplett reisst und daher seltener operiert werden muss. Eine Instabilität des äusseren Bandapparats des Kniegelenks hingegen heilt selten ohne Operation aus – ähnlich wie Kreuzbänder.

Was bedeutet eine Operation für den Körper?
Vereinfacht gesagt verursacht eine Operation Schmerzen, auch in der Rehabilitation. Und sie führt zwangsweise zur Schonung und zur Rückbildung der Muskulatur – auch wenn ausreichend Schmerzmittel zugeführt werden. Trotz Schonung ist ein gezieltes Training des operierten Körperteils in Absprache mit der Physiotherapie wichtig. Denn ohne Bewegung und Training kann das Gewebe nicht heilen. Der Körper braucht zudem genügend Energie zur Heilung des durch die Operation verletzten Gewebes. Fastenkuren nach einer Operation sind daher nicht zu empfehlen.

Welche Vorteile ergeben sich, wenn nicht operiert wird?
Die Mechanismen sind dieselben wie nach einer Operation – das Gewebe muss heilen. Unter Umständen muss die Rehabilitation jedoch vorsichtiger angegangen werden, da die gerissenen Bänder, Sehnen oder gebrochenen Knochen ja nicht durch eine Operation stabilisiert worden sind. Der Vorteil ist, dass mit einer konservativen Herangehensweise die – wenn auch kleinen – Risiken einer Operation mit Narkose vermieden werden können.

Noch eine Frage zum Thema Arthrose, wovon auch Sportler – vor allem ältere – häufig betroffen sind: Wie sollen Sportler mit der Diagnose Arthrose umgehen?
Eine individuelle Arthrosebehandlung ist eine enorm breit gefächerte Thematik und hängt davon ab, in welchem Stadium sich die Arthrose bereits befindet. Ist der Knorpelverlust noch nicht so weit fortgeschritten, gibt es aufbauende oder Knorpelersatz-Therapien, um den Knorpelverlust aufzuhalten.

Und wenn die Arthrose so weit fortgeschritten ist, dass keine präventiven Massnahmen mehr helfen und langfristig ein Gelenkersatz droht?
Dann muss man schauen, was noch geht. Generell gilt: Bewegung ist auch bei Arthrose sinnvoll und keinesfalls sollte man gänzlich darauf verzichten. Aber natürlich müssen die sportliche Aktivität und auch die Therapie oder die möglichen medizinischen Massnahmen dem Schweregrad der Arthrose bzw. den Beschwerden und dem Leidensdruck angepasst werden. Trailrunning oder Fussball sind bei einer fortgeschrittenen Kniearthrose sicher nicht zu empfehlen, aber sanfte Sportarten wie Radfahren, Schwimmen, Wandern oder auch Langlauf dürfen und sollten praktiziert werden, wenn es die Beschwerden zulassen. Als Grundsatz gilt heute auch bei einer Arthrose wie bei anderen Sportverletzungen: So lange wie möglich eine Operation vermeiden, wenn es Funktionalität und Beschwerden zulassen. Die moderne Medizin hat bei Gelenkprothesen zwar gewaltige Fortschritte erzielt in den letzten Jahren, aber gleichzeitig ist eine Gelenkprothese eine endgültige Lösung, die möglichst lange hinausgezögert werden sollte.


4 Fragen, die man bei einer Verletzung mit dem Arzt besprechen sollte:

• Welche Struktur ist verletzt? Nicht jeder Bruch oder Bänderriss wird gleich behandelt. Mittelfussbrüche der mittleren Zehen müssen oft nicht operiert werden, die der kleinen Zehe jedoch häufiger. Bänderrisse am Fuss werden ebenfalls heute seltener operiert wie auch Bizepssehnenrisse nicht unbedingt. Kreuzbandrisse bei Sportlern hingegen nach wie vor relativ oft wie auch Achillessehnenrisse oder Seitenbandrisse am Ellbogen.

• Welchen Anspruch haben Sie? Sind Sie Sportler oder «Bürogummi»? Wie schnell wollen – oder müssen – Sie wieder zum Sport? Nach einer Operation kann oft schneller mit dem Training begonnen werden als ohne, was zu einem schnelleren «return to play» führt.

• Wie alt sind Sie? Ältere Patienten brauchen länger, um sich von einer Verletzung zu erholen – egal ob mit oder ohne Operation.

• Was sind die Risiken (risk analysis)? Wie verhalten sich die speziellen und allgemeinen Risiken einer Operation in Relation zum erwarteten Erfolg des operativen Eingriffs?

*Dr. med. Carmen Grosse ist Fachärztin für Sportmedizin und orthopädische Chirurgie mit eigener Praxis (Orthopädie Oerlikon; Partner der alphaclinic Zurich).

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