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Seit Jahren dominieren Läufer aus Westafrika, Jamaika und den USA die Sprintdistanzen. Ist diese Überlegenheit genetisch bedingt?

Die Genetik spielt für die Entwicklung eines Menschen eine wichtige Rolle, auch im Sport. Die genetischen Informationen werden von den Eltern an ein Kind weitergegeben und in Form von DNA (Deoxyribonucleid Acid) in den Körperzellen gespeichert. Die DNA beeinflusst Merkmale wie Körpergrösse und Gewicht und hat einen wesentlichen Einfluss auf die sportlichen Perspektiven. Yannis Pitsiladis, Professor für Sport und Bewegungswissenschaft an der Universität von Brighton, hat die grösste DNA-Sammlung von Weltklasseathleten und viele Jahre damit verbracht, nach einem speziellen «Laufgen» zu suchen. Gefunden hat er es noch nicht, aber für Pitsiladis steht fest: «Wer seine Eltern nicht sorgfältig auswählt, wird nie einer der Besten werden.» Er ist auch überzeugt, dass die Gene, die den Ostafrikanern helfen, die besten Langstreckenläufer der Welt zu sein, die gleichen sind, die auch eine Paula Radcliffe zur Weltrekordläuferin machten.
Bereits 1998 fanden britische Forscher ein Gen mit der Bezeichnung ACE (Angiotensis converting enzyme = so genanntes Konversionsenzym), das mit der Ausdauerleistungsfähigkeit von Menschen in Verbindung gebracht wird. Dieses «Ausdauergen» soll den Kontrollmechanismus der Blutzirkulation in den Muskeln beeinflussen. Die Forscher kamen zum Schluss, dass Bergsteiger, die sich ohne zusätzlichen Sauerstoff in einer Höhe von 7000 Metern bewegen konnten, eine besondere Zusammensetzung dieses Gens aufweisen.

Dann gibt es das ACTN3-Gen. Dieses Gen ist für die Produktion eines Strukturproteins in schnellen Skelettmuskelfasern verantwortlich. Es existiert in zwei verschiedenen Ausprägungen. Die eine sorgt dafür, dass der Körper ein Protein namens Alpha-Actinin 3 produziert, das vor allem in schnellkräftigen Muskeln gefunden wird und Vorteile im Sprint- und Kraftsportbereich bringt. Die andere Ausprägung des Gens verhindert die Produktion des Proteins und hilft bei Ausdauerleistungen. Allzu exklusiv ist diese genetische Disposition allerdings nicht: Etwa ein Fünftel der gesamten Bevölkerung besitzt sie.

50 Prozent der Leistung?

Die Fachleute sind sich über die Bedeutung des Genprofils keineswegs einig. Trainingswissenschaftler Professor Dr. Joachim Mester von der Deutschen Sporthochschule in Köln geht davon aus, «dass genetische Voraussetzungen zu etwa 50 Prozent Leistungen erklären können, nicht nur im Sport, auch im Lernverhalten.» Dr. Alun Williams von der Manchester Metropolitan University siedelt den Gen-Anteil sogar bei 50 bis 70 Prozent an. Und der Deutsche Professor Jürgen Weineck kommt in verschiedenen Untersuchungen zum Schluss, dass sowohl bei der aeroben Ausdauer als auch der Fortbewegungsschnelligkeit der Einfluss der Genetik bedeutend ist. Gering sei sie bei der absoluten Muskelkraft und der Bewegungsfrequenz, hoch dagegen bei der Beweglichkeit und der Bewegungsreaktion.
Andere kluge Geister sehen das anders. Molekular-Genetiker Dr. Colin Neil Moran, Dozent für Gesundheit und Sportwissenschaft an der Universität Sterling in Schottland, sagt: «Ich glaube, dass jeder in jedem Sport Weltklasseniveau erreichen kann. Es ist nur, dass jene mit den guten Genen leichter an die Spitze kommen als die anderen.» Matthew Syed, britischer Journalist, Fernseh- und Radiomann, bläst in seinem 2010 erschienen Buch «Bounce» ins gleiche Horn: Wer etwas über sehr lange Zeit gezielt und mit hoher Motivation ausübe, erziele von selbst hervorragende Leistungen. Als Beispiel erwähnt er sich gleich selbst.

Syed gehörte während Jahren zur Weltklasse im Tischtennis und ist überzeugt, dass nur Training, ein günstiges Umfeld und viel Begeisterung ihn dorthin geführt haben. Seine Eltern kauften einen Tischtennistisch, an dem Matthew als Junge ungezählte Stunden übte. Zufällig gab es an seiner Schule auch noch einen Trainer, der die Talente förderte. Und so kam es, dass die kleine Stadt Earley im Südosten von England in den 1980er Jahren wesentlich mehr Tischtennis-Talente hervorbrachte als der ganze Rest Grossbritanniens.
Auch Dr. Barbara Wessner vom Zentrum für Sportwissenschaft an der Uni Wien unterstützt diese These, als sie 2010 von eineiigen Zwillingen (= identisches Genprofil) berichtet, die in zwei ganz unterschiedlichen Sportarten sehr gute Leistungen erreichten. Der eine, Kurt, wurde Ausdauersportler, der andere, Ewald, Gewichtheber. Wessner kommt zum Schluss, dass das Training einen weit grösseren Einfluss hat als die genetischen Vorgaben. «Der Körper hat in diesem Beispiel auf die unterschiedlichen Trainingsreize reagiert und spezifische Anpassungen vorgenommen.»

Auch Kenianer hatten Top-Sprinter

Die besten Ausdauersportler kommen im Moment aus Ostafrika, die besten Sprinter aus dem Westen des Kontinents und aus Jamaika. Das war nicht immer so. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg dominierten die Finnen die Mittel- und Langstrecken, dann die Schweden; in den 1960er Jahren waren es Australier und Neuseeländer, gefolgt von den Briten mit Sebastian Coe, Steve Ovett und Steve Cram. Und erst danach übernahmen die Kenianer das Zepter.

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Im Sprint kamen die Besten jahrzehntelang aus den USA. Doch auch die Kenianer hatten einst sehr gute Sprinter, was ob der Dominanz der ostafrikanischen Ausdauersportler in Vergessenheit geraten ist. Kenia hat sogar mehr Weltklassesprinter hervorgebracht als jedes westafrikanische Land, mit Ausnahme von Nigeria und vielleicht noch Ghana. An den Olympischen Spielen 1972 in München holte das kenianische Quartett mit Charles Asati, Hezakiah Nyamau, Robert Ouko und Julius Sang Gold über 4 mal 400 Meter. An den Afrikaspielen 1987 gab es Gold über 200 Meter sowie Silber über 400 Meter, 110 Meter Hürden, 400 Meter Hürden, über 4 mal 100 und 4 x 400 Meter, bei den Frauen Gold und Silber über 400 Meter, Silber über 4 mal 400 Meter und Bronze über 4 mal 100 Meter. Die letzten Sprint-Medaillen an einer WM gingen 1993 auf das Konto von Samson Kitur (3. über 400 Meter) und die 4 mal 400-Meter-Staffel (2.). Danach kamen europäische Manager und Coaches und redeten den Kenianern ein, die Kurzstrecken seien eine brotlose Kunst. Selbst 800-Meter-Star David Rudisha war in der Schulzeit ein 200-Meter-Läufer.

Was lässt sich daraus schliessen? Dass Tradition und Training einen wesentlichen Anteil am Erfolg eines Sportlers haben. Und die genetischen Voraussetzungen? Die spielen zum Beispiel bei der Trainingsverträglichkeit eine Rolle. Die 260 Kilometer, die Dennis Kimetto in der Vorbereitung auf den Marathon-Weltrekord pro Woche zurücklegte, würde wohl kein Europäer aushalten. Die Belastbarkeit, vielleicht auch die Leidensfähigkeit, hat mit dem schwierigen Leben zu tun, mit dem sich die Vorfahren tagtäglich gegenüber sahen. Das, wie auch der leichte Körperbau, wurde im genetischen Profil an die heutigen Läufer weitergegeben.

Warum Westafrika und Jamaika?

Yannis Pitsiladis untersuchte tausende von Genproben von Spitzenathleten und konnte danach mit verschiedenen Mythen aufräumen. Die afrikanischen Gene sind nicht leistungsstärker als die eurasischen. Kenianer unterscheiden sich genetisch stark von Äthiopiern, eurasische Typen kommen viel seltener vor, die Vielfalt afrikanischer Typen ist grösser. Mit anderen Worten: Ostafrika ist ein genetischer Schmelztiegel.

Wie steht es denn mit der Theorie, dass die einfache Bevölkerung im Hochland des Rift Valley im Laufe von Jahrtausenden zu unermüdlichen Ausdauerathleten mutierte und die Überlegenheit der weltbesten Sprinter auf die Sklavenzeit zurückzuführen sei? Aus dem Westen des Kontinents wurden seinerzeit die Sklaven in die neue Welt verschifft. In Jamaika gab es einen Aufstand von Sklaven, die heute noch als Volk der Maroon in der autonomen Siedlung Accompong leben. Nur die Stärksten überstanden den Transport von Afrika in die Karibik, nur die Schnellsten konnten den britischen Farmern entkommen und nur die Härtesten konnten in der Wildnis überleben.
Doch auch dafür fand Pitsiladis keine Argumente. Bei den Jamaikanern und selbst bei den Maroon findet sich eine grosse genetische Vielfalt. Und unter den US-Sprintern der Weltklasse gibt es wieder andere, teilweise europäische Typen. Die Erklärung für die Überlegenheit einzelner Länder oder Erdteile ist womöglich viel simpler und auf die soziokulturellen Faktoren zurückzuführen. Kenianische und äthiopische Schüler laufen mehrere Stunden pro Tag. Das hat zur Folge, dass die maximale Sauerstoffaufnahme bei 14-jährigen Buben und Mädchen bereits so gut ist wie bei austrainierten europäischen Athleten. Wenn die Jugendlichen schliesslich mit einem strukturierten Training beginnen, befinden sie sich auf einem Niveau, dem die Athleten in der westlichen Welt ein Leben lang nachlaufen.

Man schätzt, dass in Kenia etwa 5000 junge Menschen ernsthaft trainieren. Nicht, weil sie Olympiasieger oder Weltmeister werden wollen, sondern um Geld zu verdienen. In einem Land, wo 50 Prozent mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, ist das die Hauptmotivation. Ähnlich ist es in Jamaika, wo ein System von Schulwettkämpfen die Kinder schon von klein auf intensiv Sprint trainieren lässt.

Die Tradition spielt demnach eine entscheidende Rolle. Nicht nur in Ost- und Westafrika oder in Jamaika. Es gibt auch andere Beispiele: Boxen in Kuba, Basketball in den USA, Rugby in England und Neuseeland, Schwimmen in Australien und den USA, Kunstturnen in Japan und China, Fussball in Brasilien und viele mehr. Der legendäre irische Coach Brother Colm O’Connell, der seit 1976 in Kenia lebt und viele Weltklasseathleten hervorgebracht hat, trifft den Nagel wohl auf den Kopf, wenn er sagt: «Die Weissen wollen immer etwas Besonderes finden. Ein kleines verborgenes Geheimnis. Sie wollen es auf ihre Läufer übertragen, um das gleiche Resultat zu erzielen. Oder auch nur, um sagen zu können: Seht her, aus diesem bestimmten Grund sind uns diese Leute überlegen. Wir können also gar nicht mit ihnen konkurrieren. Dabei ist der Erfolg Kenias im Laufsport ganz einfach: Es gibt Tausende, die es mit Laufen versuchen, weil das die einzige Perspektive in ihrem Leben ist.»

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